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Ständig bin ich mir selbst begegnet

oliwia.substack.com

Ständig bin ich mir selbst begegnet

Acht Tage Marseille oder: man nimmt sich selbst überall hin mit.

oliwia marta haelterlein
May 25, 2022
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Ständig bin ich mir selbst begegnet

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Notatka numer 2 - Notizen im Mai 2022

„Es ist von Gewicht, welche Geschichten wir erzählen, um andere Geschichten zu erzählen. Es ist von Gewicht, welche Konzepte wir denken, um andere Konzepte mitzudenken.“ Donna Haraway Unruhig bleiben

In Gedanken schreibe ich über zerklüftete Felsen, die ich bewandert habe und über die Buchten mit türkisfarbenem Wasser, in dem ich geschwommen bin; Über zwei-spurige Straßen vor meinem papierdünnen Schlafzimmerfenster, die vier-spurig von öl- und elektrobetriebenen Fortbewegungsmitteln befahren werden. Von Menschen, die mir überall begegnen: Menschen in offenen Schuhen oder ohne. Menschen, die mir nahekommen. So ungewohnt nah. Ich spüre ihre warmen Körper. Es ist mir schnell zu viel und gleichzeitig merke ich, wie sehr ich das vermisse. In Gedanken schreibe ich von Tagen, die vom Sommer bewohnt sind und mich anstecken.

In meinem Notizheft stehen viele Dinge über Frauen geschrieben. Über Frauen, die bei Rot über die Straße rennen und mit ihren Händen Autos anhalten, so dass die Kinder sicher zum Strand kommen. Über Frauen, die im Bus freundlich schreien, die Tür möge doch auch hinten aufgehen. Stimmen und Laute überall. Schallendes Lachen purzelt aus offenen Mündern und legt sich nieder auf Strandtücher. So viel lautes Lachen, auch nach Sonnenuntergang. Auch dann noch, wenn ich schwer erschöpft von all den Menschen im Bett liege und mir wünsche, der einzige Mensch auf der Erde sein zu können. Auch von Möwen schreibe ich, wie sie sich auf die Îles du Frioul zurückziehen, um zu brüten und dann ihrem Nachwuchs die Plage du Prado zeigen, damit sie mit Chips gefüttert werden.

Ich schreibe im Kopf über die Kapitänin, die mit dem tätowierten Haifisch auf der Hand. Darüber, dass ich nicht aufhören kann, ihr zuzusehen und finde, sie wäre eine tolle Romanfigur. Von der Künstlerin in der 23 Rue Caisserie, die Schmuck macht aus Dingen, die sie beim Tauchen und auf der Straße findet oder geschenkt bekommt. Darüber, wie sie alte schwarze Anhänger mit einer kleinen grauen Bürste reinigt und Teile zusammenfügt mit Kleber und Silber vergoldet - zu neuen Zierstücken. So ein Schmuckstück, dass auch ich jetzt eine blaue Frau mit Kopf- und Körpertuch an meinem rechten Handgelenk trage. Und über die täglichen, überfüllten Busfahrten in der 83, entlang der Corniche Kennedy. Ein Küstenabschnitt, wo jungen Menschen sechs Meter tief ins Meer springen und dafür Applaus erhalten. Und selbstverständlich immer wieder von der Sonne: Der heißen Sonne, die Baden im Mai notwendig macht und der vielen verbrannten Haut an den Sandstränden. Wie sehr ich doch die Sonne brauche.

Auf dem Papier schreibe ich, wie die Stadt überrascht. Mit ihrer Offenheit und ihrem Selbstbewusstsein und auch wie sie mich fordert und einnimmt - und ich mir dort ständig selbst begegne. Ich fühle mich auch manchmal zu langsam und zu nachdenklich, hänge mir selbst oft nach. Ich bin still und merke, wie sehr ich im Inneren verharre. In Marseille versuche ich mich an Bekanntes zu erinnern, aber Marseille erinnert mich wenig an all die anderen Städten und französischen Welten, die ich vorher besucht hatte. Einordnen und vergleichen ist ein netter Versuch ohne Ergebnisse, auch ich bin nicht dieselbe von damals an den anderen Orten. Obwohl ich weit weg bin von zuhause, so kann ich mich selbst nicht abschütteln. Ich schreibe an Freundinnen, die fragen, wie es mir geht: „Marseille ist eine Stadt, die nicht gefallen will. Marseille ist eine Stadt, die darauf scheißt, was andere über sie denken.“ - und denke: wie gern wäre ich wie diese Stadt.

Das hier zu schreiben, löst Herzklopfen aus, lese ich daneben in meinem Notizheft. Das zu schreiben, ist mir wichtig, weiß ich.

Ich begegne mir selbst im Bus 83. Auf dem Weg vom Vieux Port zum La Plage sitzt eine Person, die facetimed - ohne Kopfhörer und mit ausgestrecktem Arm. Sie hat langes braunes gewelltes Haar und sitzt rechts von uns in der vierer Bank, entgegen der Fahrrichtung. Manchmal treffen sich unsere Blicke. Neben ihr eine weitere erwachsene Person mit zwei Kindern. Die Telefonierende schüttet das Haar im Rhythmus ihres Lachens über die Schulter und zeigt den zwei Personen auf dem Bildschirm den Küstenabschnitt. Dabei stößt sie immer wieder mit ihrer rechten Schulter gegen die Mitfahrenden hinter sich. Sie drückt das Display hörbar gegen das verschmierte Busfenster und spricht wie vor einer Fernsehkamera zu einem Publikum. Lauter und schneller, sodass sich verdrehende Augen nach ihr umsehen und die Schweigenden sich mit hochgezogenen Augenbrauen zuprosten. Es vergehen zehn Minuten und mehr. Sie rutscht ihren telefonierenden Körper zu unserem Vierersitz, steigt mir dabei auf den Fuß. Ein „excuse moi“ in dessen Richtung und das Gespräch mit dem kleinen Fenster zur Welt in ihrer Hand geht weiter.

Ich bemerke mich und stelle fest: Ich bin genervt.

(Vielleicht) weil sie sich laut und offen und ohne Rücksicht auf Gedanken und Körper anderer frei im Bus bewegt? Weil sie nicht merkt, dass andere Menschen die Augen verdrehen und zu ihr blickend miteinander flüstern? Weil sie hier im Bus auffällt?

Ich bin neidisch.

Neid ist was ganz fieses, für alle beteiligten.

Ich bin angespannt und gleichzeitig eingeschüchtert.

Ich habe ein lautes Verlangen, nach ihrem Lautsein. Ich möchte es ihr wegnehmen und für mich selbst beanspruchen.

Sich jetzt genervt zu fühlen, heißt auch, sich gestört fühlen, in meiner Angepasstheit. Sich ertappt fühlen bei meiner Anpassung, meiner Stille, meiner Zugehörigkeit - in der Masse an Stille untergehen. Ich möchte, dass sie still ist, damit es nicht so auffällt, wie still wir anderen sind.

Ich frage mich, wann Höflichkeit anfängt und in welchem Verhältnis diese zum eigenen Bedürfnis nach Raum und Stimme und Aufmerksamkeit steht. Vor einigen Wochen war ich mit meiner WORT/LAUT Schreibgruppe bei einer Lesung von Fatma Aydemir, die über ihr Buch Dschinns sprach und daraus las. Eine Woche später haben wir über den Abend gesprochen und eine Teilnehmende der Gruppe fand die Lesung beeindruckend und sagte folgenden Satz: Sie wollte nicht gefallen. Wir fragten uns alle, was das wohl alles bedeuten kann.

Sie wollte nicht gefallen – schreibe ich in mein Notizheft und denke viel darüber nach.

Vielleicht dass eine Person einfach das sagt, was sie will? Auch wenn es nicht das ist, was die andere Person hören möchte? Oder der anderen Person vielleicht sogar widerspricht? Wir sprechen darüber, wie sie auf der Bühne nach ihrer Jacke gefragt hat, weil ihr kalt war. Eine Person äußert ein menschliches Bedürfnis, selbst wenn das kurz unbequem oder auch irritiert. Wie beeindrucken kann es sein, wenn eine Person ein menschliches Bedürfnis öffentlich äußert? Dieses Ereignis stellt uns selbst in Frage und ich überlege, wann wir authentisch sind. Was sagt das über unsere Erwartungen aus? Sind Menschen, die ihre Bedürfnisse äußern oder wenn sie ihre Meinung sagen und wir sie dadurch als sie selbst wahrnehmen, authentisch? Ist das gleichzusetzen mit: Sie will nicht gefallen?

Am Strand zeigt mir eine Frau mit ihren Blicken und im schnellen Französisch, dass ich zu nahe in ihren Bereich getreten bin. Eine unsichtbare Linie rahmt den Platz für Badetuch und Spielfläche für das Kind ein. Kein böser Blick – trotzdem trifft mich ihre Abgrenzung an einer schwachen Stelle unterhalb meiner Rippen. Dort gibt es keine Linie, die mich von der Außenwelt schützt. Ich setzt mich weiter abseits auf mein Tuch und lese Rachel Cusks Aftermath. Ich fühle jeden Zahnschmerz mit, den sie beschreibt.

Ein Kellner überrascht uns mit einer polnischen Redewendung und erklärt, er kommt aus Jugoslawien. Wir lächeln uns an und sprechen über die Stadt und das Wetter. Ich mag es, dass wir in Marseille sagen, wir sind aus Polen. Wir sprechen nur polnisch und es ist für meine Mam hier auch möglich. In Deutschland ist die Scham auch nach 30 Jahren zu groß und die Angst und die gelebte Erfahrung als „Ausländerin“ (wie sie das ausdrückt) abgewertet zu werden steckt tief. Hier aber höre ich kein „Psst“, „Ja! Ja!“ oder eine deutsche Antwort auf meine polnischen Fragen von ihr. Der Kellner kommt immer wieder, obwohl wir unsere Getränke haben und gerne unsere Augen auf den Wellen ausruhen möchten. Es wirft uns polnische Wortbrocken und Späße zu, die ich jetzt nicht mehr verstehe, aber trotzdem immer weiter lächle und nicke. Meine Augen können sich nicht mehr entspannen auf dem Wasser, ich suche in Gedanken die Sandkörner und Nachbartische ab. Eine schwangere Person neben mir isst Pommes. Der Kellner hat jetzt meinen Fokus und ich bin wütend, dass ich das nicht unterbinde, dass ich nicht auf das Meer schaue. Es ist jetzt unhöflich, höre ich mich denken, es ist jetzt unhöflich und grundlos so harsch zu sein und zu zeigen, dass du eine unsichtbare Linie hast, die nicht überschritten werden darf. Davor warst du auch nett und hast gelacht und plötzlich hast du keine Lust mehr darauf. Du hast dich darauf eingelassen und jetzt ist es schwer da wieder rauszukommen, ohne unhöflich oder seltsam zu wirken.

Auf dem Markt von Noailles kommen zwei Menschen auf mich zu, mit Kamera und Klemmbrett. Es werden Menschen zum Headshoten gesucht, für einen Dokumentarfilm zum Thema Bildungssystem. Ich stelle dazu Fragen, aber da die Dreharbeiten erst beginnen, bekomme ich noch keine genauen Informationen und ich verstehe auch nicht alles, was mir erklärt wird. Trotzdem lasse ich es mir ausführlich erzählen und höre interessiert zu. Hunderte von Gesichtern sollen eingeblendet werden. Meins darf eines davon sein. Aber da es den Film noch nicht gibt und auch keinen Titel und auch sonst keine schriftlichen Informationen, entscheide ich mich dagegen. Ich möchte nicht mein Gesicht in einem Film haben, dessen Kontext und Agenda ich nicht kenne. Ich sage Nein und merke wie sich die Stimmung verändert. Ich sehe die Gesichter sich verändern: genervt und enttäuscht, interpretiere ich. Das Lächeln verschwindet, sie drehen sich weg und laufen los, ohne mich noch einmal anzublicken. Ich spüre mein Herz flattern, meinen Bauch krampfen, es tut mir leid, in meinem Kopf möchte ich mich wiederholte Male entschuldigen und schäme mich auch ein wenig, erst offenes Interesse gezeigt zu haben und dann Nein zu sagen. Es tut mir ehrlich leid in diesem Moment. Ich kenne diese Reaktionen, denn ich möchte nicht enttäuschen und ich fühle mich auf eine sehr bekannte Art in Bringschuld. Die beiden haben in mich Zeit und Nettigkeit investiert und ich habe es nicht angenommen oder zurückgezahlt.

Der Geruch im Apartment kommt aus der Küche, höre ich meine Mutter im Flur sagen. Ich habe es nicht bemerkt, lüge ich. Warum hast du das eben nicht erwähnt? Ich konnte ja nichts sagen, ich verstehe sie ja nicht, aber du hättest darauf aufmerksam machen müssen. Wir alle vier haben den Geruch der verstopften Rohre bemerkt. Die beiden waren bei der Schlüsselübergabe und Besichtigung sehr nett und die Stimmung ausgelassen. Kein Platz für Gespräche über verstopfte stinkende Rohre in der Küche. Außerdem kenne ich diesen Geruch schon aus anderen Großstädten im Sommer und weiß, es lässt sich nicht ändern. Lass uns doch bis morgen abwarten. Wenn es schlimmer wird, schreibe ich die beiden Frühs an.

Meine Mam freut sich darüber, dass der Kellner sie als „friend“ bezeichnet. Sie als „friend“ von mir liest und nicht als meine Mutter. Ich mag das auch. Wir haben ein Gespräch darüber, warum die Arbeitskolleginnen von ihr ständig darüber reden, dass in Frankreich alle Menschen unhöflich zu Deutschen seien und sie deshalb Urlaub in Frankreich meiden. Wir fragen uns, was die Menschen im Urlaub erwarten. Gewohntes, deutsches, billiges, schnelles, Unterwürfigkeit…? Was soll das eigentlich heißen: „unfreundlich zu Tourist*innen sein“? Wer ist wozu Tourist*innen verpflichtet? Hat das etwas mit ihren Erwartungen an ihre freie Zeit und dem Geldausgeben zu tun? Oder Erwartungen an Begegnungen mit anderen Menschen und der eigenen Abgrenzung zum Verhalten der anderen? Wie ertragen wir Unsicherheiten an einem unbekannten Ort?

Am nächsten Tag antwortet die Vermieterin, dass ihr der Geruch unerklärlich sei. Dass sei noch nie der Fall gewesen und sowieso seltsam, da es weder der Reinigungskraft noch (offensichtlich) uns allen bei der Übergabe aufgefallen sei.

Bisous & Buziaczki,

oliwia

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Artist unbekannt - fotografiert in der Nähe vom La Table à l’Envers

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