oliwia’s notatka

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Eine DLL notatka

oliwia.substack.com

Eine DLL notatka

copy & paste Notizen vom Oktober in Leipzig

oliwia marta haelterlein
Nov 3, 2022
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Eine DLL notatka

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notatka numer 7,

siedem!

so notizenhaft,

wie eine notatka nur sein kann.

mit Listen,

copy and paste aus Word

und meiner Notizenapp.

außerdem 246 mal

ICH.

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02.11. um 12:20 Uhr

Ich sitze im Cafe Bohemian Kids bei der Uni beim Markt, trinke einen Match Latte. Gut! Nur wie so oft, zu kühl. Für 4.50€. Krasser Preis.

Ab heute zähle ich meine Ausgaben mit. Es bereitet mir mehr Stress die Ausgaben zu notieren, als das Geld auszugeben.

Ich frage mich, wie viele Baustellen ein Mensch eigentlich haben kann.

Ich tippe diesen Text immer auf einer Worddatei vor. Über diesen Sätzen hier gibt es bereits Gedanken mit der Überschrift: DLL notatka. Ich lese dort:

Menschen reizen mich mit ihren Geschichten und ich fühle mich nicht vorbereitet über mein Buch zu sprechen, ich nenne Keywords und denke danach, die anderen, die wichtigen, hast du vergessen.

Heute morgen habe ich mir eine Liste geschrieben, was ich alles tun möchte.

Einen Tagesplan mit schönen Sachen, für die Freizeit vor der Uni.

Um mich zu kümmern - um mich.

Um in Schwung zu kommen. Um nicht ins Grübeln zu kommen.

Ich entschiede: Heute, am 02.11.22, gibt es ein Date mit mir selbst.

Oder laut Julia Cameron: „an artist date“.

Als ich mit dem Rad durch den Park fahre - heute das erste Mal am Elsterbecken entlang im Palmengarten - denke ich: Es ist zu schön hier, um fotografiert zu werden. Ich fühle mich lebendig und glücklich am Wasser.

Ich überlege, wie ich den Oktober seit der letzten notatka zusammenfassen könnte und habe keine Ahnung. Keine Ahnung, was ich alles erlebt habe. Ich habe meinen analogen Kalender nicht dabei und kann nicht nachsehen. Ich weiß, dass sich für mich meine Erlebnisse oft unendlich lange und so intensiv anfühlen, dass ich im ersten Moment immer denke: das ist schon Monate her und hat Tage angedauert. Dabei habe ich erst 4 Nächte in meinem Zimmer in Plagwitz geschlafen, davor die eine Woche im Mc Dream Hotel.

Ich schaue mir den alten Marktplatz an, kaufe mir vegane und glutenfreie Lebkuchen für 12 Euro (!) und schreibe alles in meine Notizapp auf. Schon jetzt will ich kein Geld mehr ausgeben. Nie wieder.

Folgende Fragen finde ich neben meiner Kalkulation in meiner Notizenapp:

·      Wie kann ich mich entspannen im Zug?

·      Wie kann ich dort gut arbeiten?

·      Wie kann ich am besten mein Essen transportieren, ohne täglich einen 10kg Rucksack mit mir rumzuschleppen?

Es ist der 02.11. und es ist viel zu warm, wärmer als ich die Tage rund um Allerheiligen in meiner Kindheit in Erinnerung habe. Ich habe schon unzählige Male am Friedhof gefroren oder in meinem Zimmer den Tag abgesessen. Früher durfte ich an einem 01.11. auch keine laute Musik hören und keine gute Laune haben. Es ist in Polen einer der wichtigsten Tage im Jahr. Ein Trauertag. Ich wusste nicht, was ich betrauern soll. Heute wüsste ich es und bin gleichzeitig dankbar, dass ich dazu noch etwas Zeit habe.

Wo war ich letztes Jahr? Ich schau in meinen Fotos nach. Letztes Jahr an diesem Tag war ich in Amsterdam.

Ich denke, ich möchte gerne in Leipzig wohnen, ganz allein, so als ob es mein Leben in Freiburg gar nicht gibt. Ich finde es befreiend, dass niemand auf mich wartet, dass ich nicht auf die Uhr sehe, sondern nachhause gehe, wenn es zu kalt wird oder ich müde werde. Ich genieße es, mich allein in mein Bett zu legen, die Ohropax in die Ohren zu drücken und die Decke über den Kopf zu ziehen.

Was ich für mein Zimmer in Leipzig noch brauche:

·      Wollsocken

·      Flanellschlafanzug

·      eine kleine Wärmflasche

·      Ein Duftöl, dass nach Wald riecht

·      eine zweite Shaktimatte

·      einen Thermosbecher

Wenn ich nachhause komme, also nach Freiburg am Donnerstagabend, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Mensch und Hund kuscheln mit mir. Fast schon Haraway-esk geht es auf der Couch zu, wo ich nicht mehr weiß, was ist Pfote, was ist Hand.

Ich sage dann sehr oft: Ich vermisse dich. Ich liebe dich. Ich weiß, dass wenn das mit dem Buch nicht klappt, dann gibt es diese Person und diesen Hund auf der Couch und mein Leben ist weiterhin mehr als ok.

Ich überlege, wann ich das letzte Mal im Museum war und wo. Ich schreibe auf meine Freizeitliste und für mein Date einen Besuch im MdbK auf. Der erste Mittwoch im Monat ist for free - ich muss keine Ausgaben notieren.

Ich sehe anstelle von Vulven haarlose Dreiecke, verdrehte Körpermitten, aufgestellte Knie und Schamtücher. Ich fotografiere sie alle. Ich poste eine Story bei IG.

Wir lesen jetzt schon so viel am DLL, dass ich denke: Ich habe einen Master in Literaturwissenschaften und trotzdem habe ich keine Ahnung. In der Gruppe kommen wir uns schnell sehr nahe, die Texte der anderen sind sehr gut und ich weiß schon jetzt nicht mehr, wie ich an meinem Text weiterschreiben soll.

Ich kopiere weitere Sätze aus meiner Worddatei vom 27.10.:

Ich hole mir Scrivener, weil sich meine Texte auf unzähligen Word- und Notizdateien und Notizheften und Zetteln befinden. Ich schreibe analog und digital und impulsiv und assoziativ und ohne Ordnung. Das Wort Ordnung ist schon sehr oft im Seminar gefallen und ich brauche 1 Woche um meine Dateien auf Scrivener zu ordnen. Noch sind da keine Abschriften der analogen Notizen.

Ich mache mir Zeitstress, obwohl ich theoretisch 2 Jahre Zeit habe. Ich bin hier in einer Bubble, in der wir uns nicht mit Verkaufbarkeit beschäftigen, sondern mit unserer Kunst. Damit, was der Text und der Inhalt brauchen, nicht was der Verlag, die Agentur, der Markt braucht. Ich bin leider schon einige Jahre in diesem freien Markt unterwegs und merke, wie gesteuert ich funktioniere.

03.11.22 um 15:07

Ich sitze am Leipziger Bahnhof.

Donnerstags haben wir immer drei Stunden Romanwerkstatt.

Das bedeutet, wir nehmen uns drei Stunden Zeit, um einen Text aus unserer Gruppe zu besprechen. Unsere Gruppe besteht aus sieben Menschen. Das Format ist so ausgelegt, dass wir den Text vorher zuhause lesen und ihn (vor allem) darauf untersuchen, was uns aufgefallen ist, was nicht klappt, was wir nicht verstehen, was bemerkenswert ist ... Aber auch daraufhin, welche Gefühle er in uns auslöst und was wir gut finden und was funktioniert. Wobei dieser Teil irgendwie immer zu kurz kommt.

Mein Text, 40 Seiten von meinem Buchprojekt, mit welchem ich mich auch am DLL beworben habe, wird in zwei Wochen besprochen.

Nach der heutigen Besprechung bin ich sehr aufgeregt. Von sieben Menschen zu hören, was sie denken, was sie nicht verstehen, was sie empfehlen und was sie stattdessen machen würden - ist hart und viel und auf jeden Fall emotional. Auch wenn die meisten Beiträge sehr klug und fundiert und so gar nicht überheblich gemeint sind. Die Menschen haben sich Gedanken und Notizen gemacht und können ihre Eindrücke meist sehr genau am Text festmachen. Bisher begegnen wir uns auf Augenhöhe und ich mag unsere Gruppe.

Trotzdem habe ich Angst vor Wertung. Mein Text ist mir so nah, weil mir die Themen so nahe sind und weil ich natürlich immer alles richtig machen will. Bisher hat niemand diese 40 Seiten gelesen. Die Scham ist mir eine ständige Begleitung. Es fällt mir schwer, mich als Person zu zeigen, die ausprobiert, lernt und Fehler macht.

Meine Leseempfehlung: Lea Schneiders Essay “Scham” und hörenswert auch hier, auch zum Genre Poetry & Essay!

Scham ist ein Wissen, das dem Körper gehört.

03.11.22 um 17:20

Ich sitze im Zug nach Frankfurt. Draußen ist es dunkel. In Leipzig wird es auch 40 Minuten früher dunkel als in Freiburg.

Ich scrolle durch meine Notizen - hier über dem Getippten in meiner Worddatei finde ich noch folgendes aus der ersten Studienwoche vom 15.10.:

Frage: Welche Gefühle löst das DLL mir aus?

Antwort: „Komme direkt aus dem Nagelstudio.“

Für alle, die hier auch mal hinwollen.

Tatsächlich habe ich wenig über das DLL gefunden, als ich recherchiert habe.

Ich war nicht mit Leuten von einer Kunsthochschule befreundet oder habe im Vorhinein Dozierende gekannt. Ich wusste, bis ich 30 war nicht mal, dass man literarisches Schreiben studieren kann.

Ich bekomme eine Schultüte und weine.

Ich fühle mich wie mit 7, aber auf eine neue Art und Weise. Größer und älter als jetzt.

Es ist eine getrocknete Blüte in der Schultüte - und ich weiß genau, worauf das anspielt.

„Du öffnest das Buch und das Buch öffnet dich.“ - steht auf der Karte.

Eine notatka aus der Villa. Schüchtern unter den Weiden.

Ich bin doch erst neu in der Szene.

Es gibt hier Menschen, die studieren das seit ihrem Abi. Also seit 4 Jahren.

Ich lese bereits erste Texte von anderen.

„Das einzig politische an dir ist deine Schreibblockade.“

Es ist ein safespace, wird uns versprochen.

Ich habe eine Freundin, die sieht erstmal in allem das Tolle und Schöne - das bewundere ich. Ich suche oft nach dem Fehler und das Kritische.

Die Zugänge.

Wie divers ist unsere Gruppe, welche Hintergründe haben die Leute?

Welche Rolle spielt das Schreiben für sie? Wie sprechen sie über ihre Texte, wie betreten sie den Raum? Wie oft haben sie sich davor für das Studium beworben. Welche Erwartungen bringen sie mit?

Wer ist chronisch krank oder verschuldet sich für diese Ausbildung?

Ich bekomme meine Tage und liege 2 Stunden vor meiner Zugabfahrt in der Badewanne und atme.

Meine Menstruationsapp zeigt 28 Tage an und das ist eine Zahl, die ich so vorher noch nie gesehen habe - seit ich die App habe (über 7 Jahren), aber auch davor noch nicht in meinen händischen Tabellen.

Ich esse nicht wie zuhause. Ich schlafe nicht wie zuhause. ich gehe nicht mit dem Hund spazieren und ruhe mich nicht dabei aus. Ich atme anders, mein Herz schlägt schneller beim Einschlafen. Ich verstopfe meinen Gehörgang mit Ohropax und meine Augen zittern hinter den zugezogenen Lidern. Mein Kopf und mein Brustkorb rotieren, meine Gliedmaßen hängen schlaff am Rumpf.

Ich fühle mich alt, ich fühle mich lächerlich, frage mich, warum ich das hier mache.

Ich fühle mich überheblich und gleichzeitig unfähig. Warum wurde ich hier genommen?

Wer hat mich auserwählt? Wer hat meine Texte gelesen?

Ich frage mich, ob mein Körper mir vertraut.

Dass mein Körper schon weiß, was er schaffen kann und ich ihn versorgen werde.

Ich fühle mich, als ob ich direkt vom Nagelstudio komme.

Ich fühle mich, als wenn ich im Lotto gewonnen hätte.

Ich fühle mich so überhaupt nicht anders, als ohne Zusage.

Ich fühle mich total unter Strom.

Aber das hast du doch gewusst, als du dich hier angemeldet hast.

Ich frage mich, wie ich mich in Zukunft hier ausruhen werde.

Wie meine Schreibroutinen aussehen können.

Ich denke wieder viel über den Mythos des Schreiben-könnens und wollen nach.

So viel mehr Zeit haben für das Schreiben, ohne mich um mein Zuhause zu kümmern, um Coffee, um meine Beziehung, um meine Wohnung.

Ich frage mich, wann ich schreiben werde, wie ich den Schreiboutput planen kann.

Ob DLL jetzt mein Permissen Slot ist und das Schreiben endlich an erster Stelle stehen darf?

Mit fehlt der Ehrgeiz vielleicht, das Kämpferische. Obwohl ich ja kämpfe, aber ich bin ruhiger geworden und competition ist einfach nicht mein Ding.

Ich besuche eine Lesung im Cineding, Drift Buchladen. Habe ein Gespräch mit einer Illustratorin über Polen, Katholizismus, Mutterschaft und die Liebe zum Sohn.

Ich schaffe das alles trotz Menstruation.

Meine Augen sind sehr trocken abends, das Zwinkern tut weh.

All die Ratschläge, all die Gespräche zum DLL und zu Hildesheim. Eine Bubble tut sich mir auf.

Das Adrenalin lässt nach, ich gehe in eine Bar.

Es gibt eine Rede am Anfang, ein Text wird abgelesen und ich höre raus, dass Studierende ihre Sorgen richten an das Institut: Bücher werden nicht verkauft vom Verlag oder fehlende Konsument*innen.

Wie kann ich Geld verdienen als Schreibende? Was ist mit Selbstvermarktung, was mit content, social media, Brotjobs, self-publishing …

Es gibt laute und leise Kunst - alles hat seine Berechtigung.

Auf euch hat hier niemand gewartet.

Es haben sich Hunderte beworben.

Es gibt eine AG ohne Kartoffel - ich frage mich, ob ich da reinpasse. Da ich das Privileg des passings habe, weil ich weiß bin, keinen Akzent habe, aber trotzdem bin ich Migrantin. Ich bin Polin, keine Kartoffel, bin dort geboren und ich bin Arbeiter*innenkind. Ich bin eine der Ältesten hier im Raum. Außerdem schreibe ich über genau diese Themen.

Ich sitze viel im Zug.

Ich schreibe gar nicht.

Ich schreibe einfach so 4 Stunden am Stück an einem Text, der nichts mit meinem Buchprojekt zu tun hat, der aber so was von klar ist und raus will, dass ich während des Schreibens ständig denke: Wohin führt das?

Ich folge Édouard Louis, auf IG. Ich möchte zu seiner Lesung in Freiburg und natürlich ist diese schon ausverkauft.

03.11. um 17:53

Ich frage mich, ob ich meinen Anschluss in Frankfurt erreiche, ob ich um 21 Uhr zuhause bin und ob ich gerade meinen Eisprung habe. Ich fühle mich Gefühlsduselig und Vieles gleichzeitig. Ich hätte gerne Schokolade und habe Maggie Nelsons Argonauten in meinem Rucksack. Habe es in meinem Prosa I Seminar vorgestellt, als Buch, dass mich in seiner Form überrascht und geprägt hat. Als Buch, dass mir gezeigt hat, wie fragmentarisch, essayistisch, poetisch, anspruchsvoll, politisch, voller Liebe und Herz und Verletzlichkeit und klug, geschrieben werden kann. Ich merke, das ist mein Thema. Das ICH. Mein ICH in meinen Texten. Texte die ich lese und Texte, die ich schreibe - woran orientiere ich mich? Wo hole ich mir Inspiration und Erlaubnis? Mein Genre. Welches Genre eigentlich? Ich spüre, wie viel ich für Maggie Nelsons Buch empfinde.

Ich frage mich, was ich in der nächsten notatka schreiben werde. Ob es dann schon um meine Textbesprechung geht? Ob ich dann schon mehr Plan habe oder weniger? Ob ich dann schon Wollsocken und eine kleine Wärmflasche in meinem Bett in Leipzig liegen haben werde … ?

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Kea
Writes Hinterhofgedanken
Feb 15

Ich habe es so sehr genossen, diese Gedanken zu lesen! Danke, dass du sie 1. aufschreibst und 2. teilst :)

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