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Ein Wiedersehen nach 28 Jahren.

oliwia.substack.com

Ein Wiedersehen nach 28 Jahren.

Ich sehe durch die von Mund geblasenen Fenster und ein Haus erzählt 112 Jahre Familiengeschichte.

oliwia marta haelterlein
Aug 4, 2022
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Ein Wiedersehen nach 28 Jahren.

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01. August 2022, 09:10 in der Rhön, in Thüringen, Landkreis Meiningen.

Türme und Führungsstellen erinnern an die DDR-Grenze.

Es regnet. Hier beginnt der August unbeständig.

Hähne krähen abwechselnd.

Schafe blöcken Namen.

Vögel scharren wie Eichhörnchen unter dem Dach.

Feines Gezwitscher mischt sich darunter.

Eine Elster mit wippendem fluoreszierendem Schwanz.

Ich liege im ersten Stock eines 112 Jahre alten Haus. Hier wohnt eine Frau im Alter von 81 Jahren alleine. Sie ist die älteste Person am Gartentisch.

Ich sehe durch die von Mund geblasenen Fenster grün.

Ich denke daran, was dieses Haus schon alles erlebt hat und frage mich, ob diese Erfahrungen hier von mir wahrgenommen werden können.  

Vor meinen Augen sind Fichten, sie wurden vor 28 Jahren gepflanzt und sind heut 10-12 Meter hoch gewachsen. (Diese Maßangaben habe ich mir sagen lassen, weil ich selbst mit Zahlen nichts einschätzen kann.)

Vom Balkon aus sehe ich Kastanienbäume, die so alt sind, wie das Haus. Sie wurden 1910 gepflanzt. Der Nachbar möchte sie gestutzt sehen, sie stören sein Blickfeld, sie verdrecken seine Hofeinfahrt, sie sind ein Ausdruck für ungepflegte Rebellion.

Efeu, Rosen, Flieder und Reihen dicker, sukkulenten-artiger weiß-gepelzter Blätter umzingeln die Bäume. Es erinnert an ewigen Frost und werden von der Nachbarin Elefantenohr genannt. Eine Googlesuche ergibt keinen Sinn, es gibt hier kein Internet im Haus.

Dieses Haus hat den 1. WK, den 2. WK, die DDR und die Wende erlebt. Dort haben Möbelfabrikbesitzer, deutsche und russische Soldaten, Ingeneure und aus Polen geflüchtete Menschen, gelebt. Das Haus wurde gebaut, enteignet, als Kindergarten genutzt, vererbt und in den 112 Jahren nicht sichtlich verändert. Dieselben mundgeblasenen Fenster aus dem Jahr 1910 in dem Zimmer, in dem ich liege. Ich habe so viele Fragen und weiß nicht, wie ich sie stellen soll.


Gestern gab es in diesem Haus für 4 Menschen ein Wiedersehen nach 28 Jahren. Der letzte Besuch am 03. Oktober 1994 wurde auf Kamera dokumentiert. Diese Aufnahmen beweisen Vergänglichkeiten und doch bestätigen alle, sie hätten sich sofort wiedererkannt und nicht verändert. Das Wiedersehen ist auch eine Zeitreise ins Jahr 1994. Damals werden gelbe Kirschen gepflückt, das Bett auf dem Dachboden gefilmt und die Fichten sind noch Setzlinge.

Es wurde ein 103 Jahre altes Foto eingerahmt übergeben: Eine Hochzeit von 1919 im Kurhaus in Bad Oldesloe mit Legende. Die Großmutter mütterlicherseits der ältesten Person am Gartentisch ist darauf abgebildet. Sie thront vorne in der Mitte, wie eine Braut. (Die Braut selbst sitzt in der Mitte mit gesenktem Blick.) Ein Mann in schwarzem Frack legt zu ihr geneigt seine linke Hand auf ihren linken Oberschenkel, beide schauen direkt aus der ersten Reihe in unsere Gesichter. Es wird sich gewundert, wer dieser Mann ist. Ihr zukünftiger Ehemann nämlich, der Großvater der ältesten Person am Gartentisch, steht oben links in der Ecke. Dieser Mann wird wenige Jahre später, während er in Polen „ein Gut verwaltet“ (was bedeutet das?) die Ehe annullieren lassen - und somit auch seine Vaterschaft von vier Kindern. Für die Frau hieß das damals: kein Name, kein Geld, keine Absicherung, kein Erbe und alleinerziehend mit vier Kindern überleben.

Konnte damals auch eine Frau die Ehe annullieren lassen?

Der Mann, der die annulliert hat, war einer dieser Großväter, wo unter den Enkel*innen später gefragt wurde: Glaubst du, Opa war ein Nazi?

Nach seiner Rückkehr in Deutschland wird es kurze Zeit später erschossen aufgefunden. In seinem Bett, die Stiefel noch an den Füßen - erzählt sie mir lachend.

Eine dieser Töchter aus der annullierten Ehe wird sich später auch von ihrem Mann trennen. Ihre Optionen damals (ob während oder nach dem Krieg ist nicht ganz klar), geschieden von einem Oberleutnant und ohne Ausbildung und mit zwei Kindern, sind begrenzt. Schweden ist damals ein ideales Land für Frauen zum Auswandern, wird mir bestätigt. Dort werden Haushälterinnen und Frauen für die Kinderbetreuung gesucht und gut bezahlt. Sie geht nach Schweden und bleibt dort und nimmt nur eines der beiden Kinder mit.

Das andere bleibt in Deutschland beim Vater, der Oberleutnant ist ein Ingenieur im Krieg, einer, der keine Zeit und Raum für das Kind hat. Damals nicht und später nicht in seiner neuen Familie mit Sohn. Er wird als einer dieser Menschen beschrieben, der nach 1945 aus dem Osten in den Westen flüchtet, um nicht von „den Russen belangt“ zu werden. Dank der capitalist peace theory, wie mir erklärt wird, wird er im Westen mit seiner Profession als Ingenieur die Wirtschaft vorantreiben und selbst ein reiches Leben führen, dass er der neuen Familie in Form von Häusern und Geldern vererbt.

Sie aber, die älteste Person an dem Gartentisch, wird in dem heute 112 Jahre altem Haus bei ihren Großeltern aufwachsen und nichts von diesem Erbe und seinem Leben im Westen mitbekommen. Sie hat in diesem Haus die glücklichste Zeit ihre Kindheit verbracht, mit (und obwohl mit) ihren Großeltern väterlicherseits. Sie wiederholt oft an diesem Abend am Gartentisch: Ich hatte keine Mutter, ich hatte keinen Vater. Es gab damals keine Liebe für mich. Seit dem Erbe vor 28 Jahren hat sie entschieden, an diesen Ort zurückzukehren und dieses Haus und die Erinnerungen an diese glückliche Zeit nicht wieder zu verlassen. Dieses Haus steht ihr zu.

Ich frage meinen Partner, ob er sich mit seiner Familiengeschichte auseinandersetzt. Ob das eine Rolle für sein Leben spielt, wer seine Groß- und Urgroßeltern waren, ob das für seine Identität und auch seine Beziehung zu mir wichtig ist.

Für mich ist es wichtig.

Immer wenn ich in diesem Haus bin, stelle ich viele Fragen. Oft fallen die Antworten ganz unterschiedlich aus. Fragen stellen ist auch gefährlich. Es bedeutet auch, Menschen zu verletzen und Themen zu berühren, die in den Keller verbannt wurden. In diesem Keller hier in dem Haus werden die Kartoffeln in einer Wanne gelagert und das Holz gestapelt für den Winter.


Tage später gibt es im Wald mit Menschen in meinem Alter eine Diskussion darüber, was der Unterschied zwischen SS und Wehrmacht war und ob wir unterscheiden sollten, und ich merke, ich bin zu emotional für eine Diskussion darüber. Ich reagiere verständnislos und verallgemeinernd. Was auch an dem Buch liegt, dass ich gerade lese: „Zu viele Männer“ (2002) von Lily Brett, eine Autorin, die ich erst kürzlich entdeckt habe. In diesem Buch reist die Protagonistin mit ihrem Vater nach Polen und es geht um Täter*innenschaft, Antisemitismus der „ganz normalen Menschen“ und genau um diese (un-?)mögliche Unterscheidungen.

Suhrkamp stellt das Buch folgendermaßen vor:

»Zu viele Männer« – das sind nicht Liebhaber und Verehrer, sondern zu viele schuldige und gleichgültige Menschen auf den Straßen Polens. Das sind jene Männer, die über Antisemitismus lachen oder begeisterten Touristen in Krakau antisemitische Figuren verkaufen – es sind all jene Männer, die Ruth Rowax verfolgen. Sie ist eine neurotische, fitneßsüchtige, selbständige, emanzipierte Frau von Anfang Vierzig und überzeugter Single. Sie verdient als Leiterin eines Korrespondenzbüros viel Geld. Typisch New York. Doch Ruth Rowax ist Jüdin, Tochter zweier Auschwitz-Überlebender, in Australien aufgewachsen und nach New York geflohen. Sie beschließt, mit ihrem verwitweten Vater Edek Rowax nach Polen zu fahren, auf Spurensuche zu gehen. Warschau, Lodz und Auschwitz sollen die Stationen sein. Es ist eine Reise in die Traumata der zweiten Generation, in die Sprachlosigkeit und die unausgesprochene, tiefe Liebe zwischen Vater und Tochter.

Auf dieses Buch bin ich während meiner Recherche zu Kommunismus und Antisemitismus in Polen gestoßen und ich denke beim Lesen viel an meine Zeit in Krakau und an mein Slawistikstudium. Was weiß ich noch über die Teilungen Polens, über die polnischen Jüd*innen im 2. WK und danach, wo die Shoah und Holocaust in der Literatur doch einen Pflichtteil meiner Seminare gefüllt hat…? Ich denke heute, ich habe damals überhaupt nicht verstanden, was ich gelesen habe. Ich habe auch während meiner Zeit in Krakau nicht verstanden, was Kazimierz für ein Ort ist, als ich fast täglich in der Bar Eszeweria saß und am Wochenende in der Czajownia. Wie damals die Geschichte von wem und wie verhandelt wurde …? Ich erinnere mich, wie ich mit Kasia darüber geredet haben, dass ich bis zu meinem Studium nicht wusste, dass auch noch 1968 Jüd*innen aus Polen vertrieben wurden (→ “Ausbürgerung” durch das kommunistische Regime…), niemals war das Thema in meiner Familie und ich kam mir dumm vor. Mir fällt auf: Ich verlange die Auseinandersetzung von deutschen Familien mit ihrer Geschichte und bemerke, dass ich meine polnische Familie dabei vergesse.

Nach dem Besuch aus der Vergangenheit und Gegenwart räumen wir den Gartentisch ab und gehen in das Zimmer mit den mauvefarbenen Wänden und den schwarzen Möbeln. Dort liegen neben den Geschenken jetzt auch alte Postkarten und auch Briefe aus Schweden, aus den 50er und 60er Jahren, adressiert an verschiedene Frauen der Familie. Oft wird darin nach der ältesten Person am Gartentisch gefragt: Wie ihre aktuelle Adresse den laute? Ob es ihr gut gehe? Hat sie das Päckchen erhalten? … dass sie schon so lange nichts mehr von sich hat hören lassen und das doch schon wieder so viele Jahre vergangen sind.


Ich gehe zurück in mein Zimmer.

Ich sehe durch die von Mund geblasenen Fenster.

Es ist dunkel.

Ich erkenne nichts.

Keine Jahreszahl.

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